Festreden: 150 Jahre SPD (Jürgen Lämmle)

Veröffentlicht am 17.08.2019 in Veranstaltungen

Die 150jährige Geschichte der SPD in Göppingen ist hochspannend: Die SPD hat nicht nur in Göppingen, sondern auch von Göppingen aus in Württemberg und im Reich Geschichte geschrieben. In Göppingen hat es in dieser 150jährigen Geschichte zahllose engagierte Mitglieder, Kommunalpolitikerinnen und -politiker, Journalisten und Gewerkschaftsfunktionäre gegeben, die sich immer dafür eingesetzt haben, dass sich prekäre Arbeitsbedingungen verbessert haben, Bildungschancen für breite Bevölkerungsgruppen eröffnet wurden und die Partizipation von Frauen ermöglicht wurde. Mutige Frauen und Männer der Sozialdemokratie stellten sich frühzeitig gegen den Faschismus. Und in Kriegs- und Notjahren waren es Sozialdemokraten, auf deren Gerechtigkeitssinn und Hilfe sich die Bürgerinnen und Bürger in dieser Stadt verlassen konnten.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste, liebe Genossinnen und Genossen, auch ich begrüße Sie im „roten Göppingen“. Rot, weil zur Hochzeit der Industrialisierung im vorletzten Jahrhundert über hundert rote Ziegelkamine Zeugnis von einer prosperierenden Wirtschaft abgelegt haben. Rot, weil wir ein historisches Rathaus haben, das bis vor 20 Jahren mit roter Farbe angestrichen war und rot, weil die Wahlergebnisse für die Sozialdemokratie immer sehr gut waren. Und es ist noch gar nicht lange her, da hatten von den drei Spitzenrepräsentanten der Stadt zwei das SPD-Parteibuch.

Die Geschichte der SPD in Göppingen wurde von Albrecht Daur in seinem Buch „Und sonntags zur Demokratie“ hervorragend aufgearbeitet. Viele Co-Autorinnen und Autoren wie u.a. Dr. Wolfgang Rapp, Werner Stepanek, Claudia Liebenau-Meyer, Ernst und Frieder Birzele, Walter Riester, Dr. Walter Keller und die viel zu früh verstorbenen Antje Grebner und Dieter Riegel haben daran mitgewirkt.

Doch nun zum Beginn der Arbeiterbewegung und der SPD in Göppingen: Die Geschichte der Arbeiterbewegung in Göppingen fing an im Revolutionsjahr 1848. In der Zeit des Aufbruchs organisierten sich Handwerksgesellen und Fabrikarbeiter in einem Arbeiterverein. Die Gründung des Vereins erfolgte mit der Zielsetzung, Gleichberechtigung einzufordern, für materielle Absicherung bei Krankheit und Arbeitslosigkeit zu sorgen und sich ganz allgemein zu bilden. Nach dem Scheitern der Revolution wurde die Arbeiterbewegung im ganzen Land unterdrückt. Der Göppinger Verein wurde 1851 verboten und stellte 1852 seine Tätigkeit ein. 1863 rief der nicht verbotene Göppinger Arbeiter-Gesangsverein „Eintracht“ zur Gründung eines eigenen Bildungsvereins auf. Motor dieses Vereins war u.a. der Gastwirt Heinrich Engel, dessen Gastwirtschaft den bezeichnenden Namen „Zur Demokratie“ trug. Zur Kultur des Arbeiterlebens in Göppingen gehörten viele SPD-nahe Wirtshäuser.

Der Göppinger Georg Bronnenmayer war bei der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) im August 1869 in Eisenach dabei. Einen Monat später im September 1869 trat der Arbeiterbildungsverein Göppingen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei. Der Arbeiterbildungsverein Göppingen war der erste von Württemberg, der der SDAP beitrat. Nicht alle Göppinger und auch nicht alle Mitglieder des Arbeitervereins waren glücklich über diese Entwicklung. In Berlin erkannte man die Brisanz und auch die Chance für die SDAP. August Bebel kam persönlich im November 1869 nach Göppingen. Im Göppinger Anzeiger wurden zu dieser Arbeiterversammlung alle Arbeiter und auch alle Arbeitgeber eingeladen. Diese Veranstaltung mit August Bebel stärkte den Göppinger Arbeiterbildungsverein und seine Zugehörigkeit zur SDAP.

Georg Bronnenmayer gründete nach der SPD im Jahr 1872 eine Textilindustriegewerkschaft. Später kamen in Göppingen hinzu: Der Konsum- und der Sparverein, die Freie Volkszeitung, der Turnerbund, die Wanderbewegung der Naturfreunde, der Schwimmverein, der Radfahrverein Lasalle, die Arbeiter-Samariter-Kolonne, die Sozialistische Arbeiterjugend, der Sozialistische Frauenverband, die Gruppe der religiösen Sozialisten sowie Vortragsveranstaltungen und Konzerte im Dreikönig.

Nach dem Fall des Sozialistengesetzes wurde Bronnenmayer 1893 als einer der ersten Sozialdemokraten in den Gemeinderat gewählt. Im gleichen Jahr riefen Sozialdemokraten und vereinigte Gewerkschaften zur ersten 1.Maifeier in Göppingen auf. Trotz polizeilicher Überwachung konnte sich in den folgenden Jahren bis zum Ersten Weltkrieg ein fester Ablauf der 1.Maifeier herausbilden. Den Auftakt des Tages bildete die sogenannte Tagwacht. Um 6.00 Uhr morgens, zur Zeit des Arbeitsbeginns in den Fabriken, zog eine Arbeiterschar mit einer Kapelle durch die Stadt, um die Kollegen aufzurufen, an diesem Tag nicht der Fabrikglocke, sondern dem Signal der Arbeiterkapelle zu folgen. Am frühen Nachmittag folgte eine Versammlung mit einer politischen Rede – anfänglich im Saal des Gasthauses Dreikönig, später unter freiem Himmel beim Schockensee oder auf dem Maienwasen. Sozialdemokraten kämpften zusammen mit den Gewerkschaften gegen die damals in Göppingen noch übliche 66-Stunden-Woche.

1898 plante der deutsche Kaiser ein Gesetz „…worin jeder…, der einen deutschen Arbeiter zu einem Streik anreizt, mit Zuchthaus bestraft werden soll.“ Diese Planung bewog den Pfarrer Christoph Blumhardt, klar gegen die Not der Arbeiter und für die SPD Stellung zu beziehen. Die Kirchenleitung war entsetzt, dass ein Pfarrer der „gottlosen“ Arbeiterpartei beitreten konnte. Er musste den Titel eines Pfarrers der Landeskirche zurückgeben und verlor damit auch alle Versorgungsansprüche. Doch im Kampf für mehr Menschenwürde, für Freiheit und die Abschaffung von Privilegien erkannte er die „gelebte Nachfolge Christi‘“. Bei der Landtagswahl 1900 wurde er mit der höchsten Stimmenzahl in den Landtag von Württemberg gewählt. Neben der Verbesserung der sozialen Lage der Menschen lag ihm ganz besonders ein pfleglicher Umgang mit der Natur am Herzen: „Wir bewundern die Natur, treten sie aber vielfach nieder, nützen sie in unvernünftiger Weise aus… Die Harmonie zwischen Menschen und Natur muss kommen. Dann findet jeder Befriedigung. Und das wird die Lösung der sozialen Frage sein.“ Weise Worte, die auch heute noch hoch aktuell sind.

Unser Stadtarchivar hat eine schöne Begebenheit aus dem Jahr 1911 ausgegraben und im Buch „Göppinger Geschichten“ veröffentlicht: Der erste Internationale Frauentag fand am 19. März 1911 in Dänemark, Österreich, Schweden, Deutschland, der Schweiz und in den USA statt. Und – Sie können es sich denken – natürlich auch in Göppingen. In Göppingen organisierten die Sozialdemokratische Partei und die vereinigten Gewerkschaften diesen ersten Frauentag. Allerdings machten die Veranstalterinnen in Göppingen mit einer besonderen Idee landesweit auf sich aufmerksam. Sie riefen dazu auf, am 19. März als Symbol der Gleichheit eine rote Nelke zu kaufen und diese an der Kleidung zu tragen. Damit setzte man einen Kontrapunkt zum gleichzeitig im Land stattfindenden Verkauf der „Blume der Barmherzigkeit“, ebenfalls eine Nelke, die anlässlich der Silberhochzeit des Königspaares verkauft wurde und deren Erlös wohltätigen Zwecken dienen sollte. Die bürgerliche Presse im Königreich Württemberg wertete die Göppinger Aktion als „Geschmacklosigkeit“. In Göppingen waren am 19. März 1911 die Straßen überfüllt, ebenso der Dreikönigssaal in der Oberen Marktstraße, in dem die Sozialdemokratin Käthe Duncker zum Thema „Heraus mit dem Frauenwahlrecht“ sprach. An diesem Tag wurde nicht nur die Lage der Frau nachhaltig ins Bewusstsein gerückt. Vermutlich wurde in Göppingen auch ein Rekord im Blumenverkauf erzielt, nachdem sich viele für das Symbol der Gleichheit und auch für die königliche Barmherzigkeit entschieden.

Im Jahr 1912 war ein weiterer hochrangiger Sozialdemokrat aus Berlin in Göppingen gefordert. Sein Auftritt hing mit der „Freien Volkszeitung“ aus Göppingen zusammen, die nach der Stuttgarter „Tagwacht“ und dem Heilbronner „Neckar-Echo“ als dritte sozialdemokratische Tageszeitung in Württemberg im Jahr 1910 gegründet wurde. Am 1.7.1911 übernahm Dr. Thalheimer die Göppinger Redaktion. Er brachte seinen Freund Karl Radek mit. (Radek schloss sich übrigens später in seinem Schweizer Exil Lenin an und fuhr an dessen Seite im berühmten verplombten Eisenbahnwaggon nach Russland. Später wurde er Redakteur der russischen Regierungszeitung Iswestija.)

Die „Freie Volkszeitung“ entwickelte sich unter Dr. Thalheimer zu einem linksradikalen Organ. Die Auseinandersetzung zwischen  den linken Kräften, die die Ideologie der marxistischen Weltrevolution vertraten, und der gemäßigten Sozialdemokraten führte dann dazu, dass im Jahr 1912 der damalige Parteivorsitzende Friedrich Ebert nach Göppingen entsandt wurde, um den Streit zwischen Radikalen und Gemäßigten zu schlichten. Die Entsendung eines hochrangigen Parteivertreters weist auf die immense Bedeutung hin, welche die „Göppinger Affäre“ bis hinauf in die Parteispitze erlangt hatte. Und sogar auf dem Parteitag von 1912 in Chemnitz war der Göppinger Konflikt Tagesordnungspunkt. Die „Göppinger Affäre“, die letztendlich in der Spaltung der Sozialdemokratie endete, wurde so reichsweit zu einem Begriff.

Von den gemäßigten Sozialdemokraten war die verfassungsmäßige Zukunft der Sozialdemokratie im Reich durch Friedrich Ebert errungen und gesichert. Deren Sieg war in der Keimzelle Göppingen gelegt worden – dort, wo alles anfing.

Im Mai 1914 kamen Rosa Luxemburg und Klara Zetkin in die Stadt, nachdem bereits Karl Liebknecht im August 1911 bei einer großen Friedensdemonstration am Schockensee gesprochen hatte.

Am 9. November 1918 wird vor dem Rathaus in Göppingen durch Gottfried Kinkel die Revolution ausgerufen. Einen wesentlichen Beitrag zum friedlichen Verlauf der Revolutionsbewegung leistete der in der Nacht zum 9. November gebildete Arbeiterrat, der den Generalstreik und die Kundgebung auf dem Marktplatz organisiert hatte. Der Arbeiterrat stand unter der Führung des ersten Vorsitzenden Georg Rohrer von der SPD. Georg Rohrer kam 1933 aufgrund seiner sozialdemokratischen Gesinnung ins KZ.

Doch zurück zum Revolutionsjahr 1918: Die Stadtverwaltung in Göppingen arbeitete mit dem Arbeitergremium in Bezug auf Lebensmittelversorgung, Arbeitslosenfürsorge und Wohnraumbeschaffung eng zusammen. In Berlin führte die sozialdemokratische Revolutionsregierung am 12. November 1918 Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und das freie und allgemeine Wahlrecht für Männer und Frauen ein. Bei den politischen Rahmenbedingungen im damaligen Deutschland war es eine sehr mutige Entscheidung, als praktisch erste Tat das allgemeine Frauenwahlrecht einzuführen. Dies hatte auch Konsequenzen in Göppingen: Bei der Gemeinderatswahl 1922 rückte die Hausfrau Mathilde Brückner, die auf der Liste der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei kandidiert hatte, als erste Frau in den Göppinger Gemeinderat ein. Nach Ablauf ihrer Amtszeit kandidierte Mathilde Brückner im Jahr 1928 erneut und wurde diesmal sogar Stimmenkönigin. Frauenpolitik spielte auch nach dem Zweiten Weltkrieg in Göppingen eine große Rolle: Bei der Gemeinderatswahl 1947 wurden vier Frauen in den Gemeinderat gewählt. Damit stand Göppingen im Vergleich mit anderen württembergischen Städten absolut an der Spitze. Und auch heute noch hat die sozialdemokratische Gemeinderatsfraktion genauso viele Frauen wie Männer als Mitglieder. Das schafft keine andere Fraktion!

Meine Zeit reicht heute nicht aus, um alle Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten zu nennen und zu würdigen, die in den letzten Jahren in Göppingen und von Göppingen aus Geschichte geschrieben haben: Elise Herbolzheimer, Georg Birzele, Anneliese Wagner, Karl Frasch, Heinz Rapp, um nur einige wenige zu nennen. Bezeichnend ist auch, dass mehrere große Gewerkschaftsführer längere Zeit in Göppingen tätig waren: Der unvergessliche Willi Bleicher, Hans Mayr, der schon früh für die 35-Stunden-Woche kämpfte, der Modernisierer Franz Steinkühler und Walter Riester, der später Arbeitsminister in der Regierung Schröder wurde.

Zwei Genossen möchte ich abschließend noch erwähnen, weil sie sich schon vor Jahrzehnten erfolgreich um Themen gekümmert haben, die heute wieder ganz aktuell sind:

Der Bundestagsabgeordnete Karl Riegel, der nach dem Krieg tausende von Flüchtlingen nach Göppingen geholt hatte und mit nimmermüdem Einsatz dafür sorgte, dass diese auch Wohnungen bekommen und in die Stadtgesellschaft erfolgreich integriert werden. Und Frieder Birzele, der als Innenminister eine ganz konsequente Kante gegen die rechtspopulistische Partei „Die Republikaner“ zeigte und sie damit erfolgreich bekämpfte.

Liebe Gäste, liebe Genossinnen und Genossen, ich bin stolz, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu sein.

 

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